Die Dreiecksinsel Sizilien, die Trinacria, liegt vor der Spitze des italienischen Stiefels, als müsse sie jederzeit einen Fußtritt gewärtigen. Tatsächlich hat es im Laufe seiner Geschichte so manchen Fußtritt hinnehmen müssen, und gar so verwunderlich ist es deshalb nicht, dass sich hier nicht wenige am Feuerchen der Sonderbündelei erwärmen wollten.
Nun, so ausgeprägt die Eigenart der Insel und ihrer Bewohner auch sein mag — ohne das italienische Mutterland wäre heute eine Weiterentwicklung kaum denkbar. Ja, einst, als Sizilien die Kornkammer für Griechen, Karthager und Römer war, als auf den Höhen, die heute verkarstet und von Wind und Sonne ausgelaugt sind, dichte
Wälder standen, als der Boden Nahrung und Kleidung in verschwenderischem Überfluss bot — damals wäre eine Eigenstaatlichkeit denkbar gewesen.
Freilich, was ganz allgemein vor allem für das Innere Siziliens gilt, hat keine Gültigkeit für die Küstengebiete. Hier wuchert eine fast tropische Vegetation, die sizilianischen Gärten und Parks entfalten den ganzen Zauber des Orients. Der Orient ist es auch, der neben dem alten Hellas der Insel seinen Stempel aufdrückte. Sie ist so gut eine Brücke nach Afrika wie zu den alten Kulturen der Griechen. Das verdankt sie ihrer Lage im Spannungsfeld der politischen Strömungen des Altertums und des Mittelalters.Ihre langen Küsten boten zu wenig Schutz gegen feindliche Angriffe, so wurde sie zum Ziel ihrer kriegslustigen Nachbarn aus Afrika und Europa. Sizilien, und das ist vielleicht seine hintergründigste Eigenart, ist die Insel der Götter und Titanen geblieben, die sie einst war. Zwar gibt es kein Dorf, in dem nicht eine Kirche stünde, keine Stadt, in der man nicht prächtige Gotteshäuser errichtet hätte — aber ganz ist es dem Christentum nie gelungen, die alten Götter zu verdrängen. Man möchte nicht wenige Sizilianer als ,,getaufte Heiden" bezeichnen. Sie gehen zur Kirche und fürchten den bösen Blick, sie feiern das Erntedankfest und beten heimlich zu Demeter, sie bekreuzigen sich und tragen im Geldbeutel die Hand der Fatima, um Ungemach abzuwenden. Allenthalben begegnet man heidnischen Symbolen, und wo man sie nicht sieht, glaubt man sie doch zu spüren. Aber sollte man nicht an das Werken zorniger Götter glauben, wenn der Ätna glühende Lavamassen über die Felder speit, wenn die Erde erzittert und unbekannte Dämonen – man erinnere sich an das furchtbare Erdbeben im Jahre 1908, das Messina vernichtete und mehr als 80000 Menschenleben forderte — über die Insel herfallen?
Phönizier, Griechen und Karthager waren die ersten, die sich die Insel ganz oder teilweise unterwarfen. So gibt es heute auf Sizilien — in Segesta, Selinunt, Agrigent und Syrakus zum Beispiel —- ebenso schöne und wohlerhaltene Zeugen der griechischen Kultur wie im Mutterland selbst. Der dorische Tempel, zu wuchtiger Schönheit und einem makellosen Ebenmaß entwickelt, offenbart sich in Sizilien in
seiner vollendetsten Form.
Für Normannen, Deutsche und Franzosen war Sizilien im Mittelalter das Ziel von Beutezügen und Eroberungen. Ein Franzose - Roger Guiscard -- war es, der die Mohammedaner aus Messina vertrieb. Normannen, Hohenstaufen und das Haus Anjou residierten in Palermo. Dabei ging ihre Wesensart so sehr in der ihrer islamitischen Untertanen auf, dass sie sich sogar einen Harem hielten. Eine einzigartige Mischkultur entstand, deren strahlendster Vertreter der Staufenkaiser Friedrich 11. war. Später machten auch die spanischen Herren und die Bourbonen ihren Einfluss geltend. So wurde Sizilien im Laufe seiner dreitausendjährigen Geschichte zum Sammelbecken fast aller Kulturen der Welt, die hier zu einer prächtigen Eigentümlichkeit verschmolzen. Wenn schon die Griechen glaubten, der Garten Eden müsse bei Syrakus gelegen haben, so dürfen wir Heutigen getrost annehmen, dass auf Sizilien der Abglanz des Paradieses schimmert.